Wer sich für klassische Rollenspiele am Computer interessiert, dem ist die „Might and Magic“ Reihe sicherlich ein Begriff. Might and Magic gehört zu den langlebigsten westlichen Rollenspielserien, dessen zehnter Ableger „Might and Magic X: Legacy“ nach größerer Pause und dem eher durchwachsenen neuten Teil Anfang 2014 veröffentlicht wurde.
Der erste Teil „Might and Magic: Secret of the Inner Sanctum“ (kurz: MM1) erschien 1986 zunächst auf dem Apple II, später in einer grafisch und spieltechnisch stark abgewandelten Version für das NES (1990) und zwei Jahre später in einer PC-DOS Version, die sich wieder an der Apple Version orientierte. Weitere Varianten auf dem C64 und anderen Heimcomputern waren ebenso erhältlich. Wenn nicht explizit anders erwähnt, bezieht sich dieses Review auf die Funktionalität der Apple II/PC-DOS Versionen.
Die Grafik ist für die Zeit abwechslungsreich und farbenfroh. (PC-DOS)
MM1 erschien zu einem Zeitpunkt, an dem andere Rollenspielreihen schon mehrere Teile auf den Markt gebracht hatten. Doch während Sir-Tech Software mit Wizardry III (1983) bereits zum dritten mal einen sehr ähnlichen Dungeon Crawler veröffentlicht hatte und die Ultima Reihe mit dem vierten Teil (1985) größtenteils auf eine 2D-Präsentation setzte, konnte MM1 der Spielerin eine zusammenhängende Welt mit Klimaregionen, Städten und Dungeons bieten, die komplett in einer 3D-Sicht erkundbar war.
Hack'n Slash für Anspruchsvolle
Klassische Computerrollenspiele sind meist in wenigen Sätzen beschrieben. Eine Figur, oder eine Gruppe von Figuren, kämpft sich in labyrinthartigen Kerkern rundenweise durch Horden von Monstern. Die erlangte Erfahrung und das gefundene Gold kann genutzt werden, um die eigenen Heldinnen zu verbessern und somit gegen noch stärkere Monster zu kämpfen, die wiederum noch wertvollere Schätze bewachen. Dieser theoretisch unendlich durchführbare Kreislauf wird an einer beliebigen Stelle durch das Erreichen des Ziels einer Hauptquest gestoppt.
So richteten viele frühe Rollenspiele ihren Fokus hauptsächlich auf strategische Elemente wie rundenbasierte Kämpfe, Attributentwicklungen und die Wahl passender Rüstungen und Gegenstände. Komplexe Handlungsbögen und vielschichtige Charaktere suchte man vergeblich. Hier zeigt auch MM1 keinen Unterschiede. Zwar ist eine Hintergrundgeschichte existent, die neben den klassischen Fantasyelementen ebenso Science Fiction Anleihen enthält, doch ist sie nicht mehr als Mittel zum Zweck, um die Gegebenheiten des Spiels zu erklären. Die eigenen Figuren haben kein Eigenleben und fällen Entscheidungen immer kollektiv durch Wahl der Spielerin.
MM1 überlässt der Spielerin eine nichtlineare Entscheidungsfreiheit bei der Wahl des Handlungsbogens und der Aufgaben. Insgesamt existieren im Spiel zirka 40 Quests, die sich jedoch größtenteils in Gefälligkeiten für verschiedene Gruppierungen aufteilen, sodass in einem Spieldurchlauf nur ein Teil der Aufgaben erfüllt werden muss. Viele Aufgaben beschränken sich auf „Finde X“ oder „Töte Y“ Aufträge. Es finden sich jedoch auch einige komplexere Knobelaufgaben.
Im Gegensatz zu anderen Rollenspielen der Zeit ist die Erfüllung von Quests ein bedeutender Schlüssel zum schnellen Stufenaufstieg. Zwar kann der Stufenaufstieg ebenso durch das Töten von Gegnern erreicht werden, dauert aber bedeutend länger. Weiterhin steigen die Figuren nicht automatisch auf, sondern müssen nach dem Erreichen der notwendigen Erfahrung erst in einer Stadt unter Investition von Gold trainiert werden.
Das Spiel kennt keine Savegames als losgelöste Spielstände, die jederzeit erstellt werden können. Stattdessen wird automatisch bei Betreten eines Inns in einer Stadt gespeichert. Wenn die Party stirbt, startet sie vom letzten besuchten Wirtshaus. Das bedeutet, dass alle gefundenen Gegenstände und Goldstücke seit dem letzten Spielstand verloren sind, wenn man es nicht zurück in eine Stadt schafft. Da nach einem Besuch im Wirtshaus auch die meisten Kampfgebiete zurückgesetzt werden, ist man gezwungen einige Kämpfe mehrmals hintereinander durchzuspielen.
Stark begrenzte Charakterentwicklung
Die Spielerin kann in MM1 sechs Figuren erstellen und steuern. Die Auswahl der Charaktereigenschaften ist dabei sehr elementar. Aus zwei Geschlechtern, drei ethischen Einstellungen, fünf Völkern, sechs Berufsklassen und sieben Attributen lassen sich in der Theorie zwar einige Kombinationen konstruieren, doch bildet man in der Praxis meist eine Party, die jede Klasse einmal enthält. Hieraus ergeben sich dann folgend die benötigten Attribute pro Charakter. Volk, Geschlecht und Ethik können zwar noch variiert werden, haben im Spiel aber eher untergeordnete Rollen.
Die Charakterwerte in MM1 sind sehr elementar gehalten.
Wie der Name der Spielreihe suggeriert, hat die Spielerin bei den Klassen die Auswahl zwischen kräftigen oder magischen Charakteren – oder eine Mischung aus beiden. Es existieren zwei Magiezweige: Magie für Kleriker und für Zauberer. Die Anzahl und Wirkungsweisen der Zauber sind hierbei fest vorgegeben und werden über die Erfahrungsstufe der Figur automatisch in immer gleicher Reihenfolge freigeschaltet. Besonders starke Zauber brauchen zusätzlich noch Edelsteine, die während des Spiels gefunden werden müssen.
Weiterführende Skills wie Bergsteigen oder Navigation, die Spezialwissen freischalten, wurden erst mit dem zweiten Teil eingeführt. Kurzum: Nach Erstellung der Charaktere muss und kann sich die Spielerin nicht mehr mit Details wie Attributen oder Zaubern beschäftigen. Die Weiterentwicklung der Figuren geschieht vollautomatisch. Dies kann für einige Spielerinnen ein Vorteil sein, die sich lieber auf andere Aspekte eines Rollenspiels konzentrieren möchten, stellt für andere jedoch vielleicht eher ein Manko des Spiels dar.
Kämpfe und Monster
In MM1 lauert die Gefahr wortwörtlich an jeder Ecke. Fast jede Stelle der Karte kann per Vorbelegung oder Zufall der Austragungsort eines Kampfes werden. Wie bei Spielen dieser Dekade üblich, gibt es keine Möglichkeit vor Betreten des Feldes die Wahrscheinlichkeit auf einen Feindkontakt abzuschätzen. Der Schwierigkeitsgrad der Kämpfe schwankt leider durch die randomisierte Zusammenstellung zu häufig zwischen viel zu einfach und viel zu schwierig, ohne besonders oft die goldene Mitte zu treffen.
Grafiken der Gegnerinnen gibt es nur im Einleitungsbildschirm
Der Kampfbildschirm ist einer der großen Schwächen von MM1. Das ist insbesondere deshalb bedauerlich, weil man aufgrund der Häufigkeit von Kämpfen gute 50% der Spielzeit dort verbringt. Zunächst fällt auf, dass der gesamte Bildschirm bei Kämpfen nur aus Text besteht. Das ist selbst für solch alte Spiele eher unüblich. Spiele wie Bard's Tale (1985) haben gezeigt, dass rundenbasierte Kämpfe auch viel schöner und übersichtlicher stattfinden können. Hinzu kommt die Erkenntnis, dass viel Text unnötig ist, während andere interessante Informationen auf Ausweichbildschirme verschoben wurden. Beispielsweise wird die eigene Party auf dem Kampfbildschirm immer zweimal angezeigt; zunächst in einer numerischen Repräsentation in der linken oberen Ecke und dann noch einmal in der unteren Bildschirmhälfte. Diese Informationen hätte man auch zusammenfassen können, um zum Beispiel die Trefferpunkte der Charaktere zusätzlich einzublenden.
Weder hübsch noch übersichtlich – der Kampfbildschirm
Die Kämpfe selbst sind Genrestandard. Die teilnehmenden Figuren werden nach Schnelligkeitswert geordnet und abgearbeitet. Jeder Charakter hat je nach Situation die Wahl zwischen angreifen, blocken, zaubern oder flüchten. Nahkampf ist aus Balancinggründen immer nur einer bestimmten Anzahl Figuren an der Vorderfront erlaubt. Der Rest muss entweder auf Fernkampf zurückgreifen oder warten. Zauber sorgen durch Boni, Mali oder Flächenschaden für die notwendige strategische Tiefe, die Kämpfe entscheiden kann. Trotzdem stellt sich sehr schnell Routine ein. Nahkämpferinnen kennen nur eine Angriffsart und auch spezielle Diebinnenschläge wie hinterhältige Angriffe sucht die Spielerin vergebens.
Hat die Spielerin den Kampf gewonnen, sollte sie dringend die Gegend absuchen, bevor sie sich weiterbewegt, denn Gegenstände oder Gold erhält sie nach dem Kampf nicht automatisch. In MM1 werden die meisten Gegenstände aus Kisten nach Kämpfen gelost. Normale Schätze gibt es eher selten.
Die Anzahl der Gegenstände im Spiel beträgt 255. Diese Zahl bezieht sich auf alle Gegenstandsarten von Waffen über Rüstungen bis hin zu Questitems. Alle Objekte sind mit allen Eigenschaften fest vorgegeben und werden nicht etwa durch zufällige Verzauberungen dynamisch erweitert, wie es in späteren Teilen der Fall ist. Hinzu kommt, dass bestimmte Gegenstände für bestimmte Klassen oder ethische Ausrichtungen gesperrt sind. In der Praxis gibt es somit nur eine sehr begrenzte Anzahl von Objekten, die eine Figur tragen kann.
PC & Paper Spielstil
MM1 ist das einzige Spiel der Reihe, welches keine implizierte Automapping Funktion anbietet (Ausnahme: NES Version). Das heißt, dass die Spielerin selbst verantwortlich ist, eine Karte der Umgebung zu zeichnen. Dies ist zwingend notwendig, denn die Landschaften sind traditionell wie ein Labyrinth angeordnet. Die Konstruktion der Karten führt zu einem hohen Zeit- und Organisationsaufwand, da die Maße und Anzahl der Karten vorher nicht bekannt sind. Erschwerend kommt hinzu, dass jede Wand eine Illusion sein kann – auch nur einseitig. Hier ist ausprobieren angesagt. Hinter diesen Wänden verstecken sich teilweise wichtige Figuren oder Gegenstände. So wird die Erkundung der Spielwelt selbst zu einem größeren Rätsel.
Meditatives Zeichnen mit Rollenspielen
Das Erstellen der Karten kann für Retrospielerinnen wie mich wünschenswert sein. Ich verweise hier stolz auf das Foto meines Notizbuches. Diejenigen, denen das Erfassen auf Papier zu umständlich ist, können hierzu Softwareprodukte nutzen. Das manuelle Erfassen der Umgebung führt aber auch dazu, dass MM1 nicht unbedingt ein Spiel ist, welches unter Zeitmangel in einer beengten Straßenbahn gespielt werden sollte.
Im Idealfall hat die Spielerin noch eine ausgedruckte Version des Handbuches neben sich liegen, denn Zauber werden in MM1 nur anhand von Nummern gesprochen. Wenn die Klerikerin die Ritterin an vorderster Stelle heilen soll, so ist die Tastenkombination C-2-1-1 notwendig. C steht hierbei für „Cast Spell“, 2-1 für den Zauber „Heilen“ und die letzte 1 für die Position des Charakters in der Party. Bei knapp 100 Zaubern ist ein regelmäßiger Blick in das Handbuch oder eine ausgedruckte Zauberliste notwendig, denn die Zauber sind nicht spielintern einsehbar. Früher galten solche spielexternen Informationen als Teil des Kopierschutzes; heute sind sie eher nervig.
Fazit
Might and Magic I ist nicht der typischer Klassiker, auf dessen Einzigartigkeit und Erfolg eine ganze Serie aufgebaut wurde. Obwohl es seine Alleinstellungsmerkmale hat, ist es in vielen Punkten qualitativ höchstens damaliger Genrestandard gewesen. Im Vergleich zu anderen Spielen der Zeit war es jedoch einstiegsfreundlich und leicht verständlich. Ein Charakterzug, der auch die späteren Teile der Serie auszeichnet und zu ihrem Erfolg beigetragen hat. Aus heutiger Sicht ist diese Einstiegsfreundlichkeit mit fehlender Automappingfunktion und den im Schwierigkeitsgrad stark schwankenden Kämpfen kaum verständlich, jedoch waren Rollenspiele in den 80er Jahren Spiele, an denen man sich regelmäßig die Zähne ausbiss.
Ich kann MM1 nur Spielerinnen empfehlen, die unbedingt einmal den ersten Teil der Serie im Original erleben möchten. Ohne Zweifel handelt es sich um den Grundstein einer sehr guten Serie. Hardcorespielerinnen greifen hier zur Apple II oder DOS Version. Wer es etwas bequemer haben möchte, greift zur NES Version (Automapping und benannte Zauber!).
Alle anderen Retrogamerinnen sollten lieber in den zweiten Teil hineinschauen, der eine konsequente Weiterentwicklung darstellt. Seine Sternstunde hatte die Might and Magic Reihe in meinen Augen mit den Teilen 4 und 5, die zusammen spielbar waren (World of Xeen). Ab dem sechsten Teil wurde auf eine fließende 3D Umgebung in Echtzeit gewechselt, sodass sich prinzipiell ein ganz anderes Spielgefühl einstellt.
Wenn ihr MM1 spielen möchtet, solltet ihr viel Zeit und Leidensfähigkeit mitbringen, denn Kämpfe sind selten fair und die Kartografierung der Welt dauert eine ganze Weile. Aber vielleicht ist auch gerade dieser Abstand zum Alltag manchmal wünschenswert. Ich habe diese Zeit auf jeden Fall genossen.