Es ist dunkel um uns herum. Dunkel und leer.
Ja, leider muss ich so beginnen. Ihr müsst nämlich wissen: Vor uns liegt die Mutter aller Einleitungstexte und die gute Erzählerfigur, gleich ob Fräulein Rinn, Herr Crova, Andi oder sonst jemand, muss leider noch ihren Text büffeln. Das kommt leider vor, so ist das nun einmal unter Laien.
Schließen wir solange unsere Augen – symbolisch, versteht sich – und stellen uns vor, welches Bühnenbild uns gleich erwartet. Dunkel wird es sein und urban. Es wird aus einer engen Seitengasse den Blick auf eine regennasse Hauptstraße eröffnen, in deren Pfützen sich Neonlicht spiegelt. Könnt ihr nicht auch den Verkehrslärm hören, der zu uns herüberhallt, und das Stimmengewirr? Auf einer Anzeigentafel wird ein Werbespot in Endlosschleife laufen und die unbedeutende Botschaft alle fünf Sekunden neu ertönt. Sie ist zugleich Teil der Szenerie und wertvolle Product Placement-Zeit, über die sich die Finanzabteilung ganz besonders freut.
So stehen wir also im Dreck der Gosse im Schatten der Hochhäuser und wenden unseren Blick den Menschen zu. Da gibt es diese gefährlich aussehende Biker Gang mit ihren schrillen Frisuren, die wir besser nicht belästigen, doch wirken sie kaum weniger schräg als die vorbeiziehende Abteilung von Konzern-Speichelleckern, die alle den gleichen Anzug und Haarschnitt tragen wie ihr Chef. Dann gibt es noch etwas verborgen eine dritte Gruppe, doch wer sie sind und was sie tun, das möchte ich hier nicht ansprechen. Ihr würdet es mir ohnehin nicht glauben.
Nun dürft ihr eure Augen wieder öffnen. Seht euch um und sagt Hallo zu der Cyberpunk-Welt, die uns umgibt. Damit wären wir angekommen – und das im doppelten Sinne, denn dies ist das erste Thema der Mutter aller Monologe. Cyberpunk ist nämlich eine Mischung aus (dystopischem) Science Fiction und Film Noir (wiederum eine Mischung aus Action und Liebesfilm), die in den Achtzigern und frühen Neunzigern aufkam und in der sich (wie oft in Science Fiction oder generell in Fiktion) gesellschaftliche Erwartungen und (mehr noch) Ängste spiegeln. Man fürchtete sich vor dem Ende des Amerikas, wie man es kannte: Der Staat wurde ohnmächtig und/oder polizeistaatlich-bürgerfremd und macht Platz für neue Herren – Konzerne und/oder Nationen aus der zweiten Reihe, darunter ganz entschieden Japan –, während auch die kleinstädtisch-bürgerliche Kultur ihren Platz im Herzen Amerikas verlor und durch eine Großstadtkultur ersetzt wurde, in der sich jeder in seinem Verhalten und Aussehen individualistisch und für sich allein stehend gibt. Familie und bürgerliche Werte sind vergessen.
Technik spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Während sich in der wirklichen Welt Computer breit machten, suchte man in der Fiktion diese Entwicklungen zu Ende zu denken und kam bei der Entwicklung maschinell geschaffenen Lebens, sei es in Form von bewussten und fühlenden Robotern oder Künstlichen Intelligenzen, an. Hinzu kommen auch Implantate, die die Menschen von innen infrage stellen oder einfach nur wild und individualistisch aussehen.
Diese dunkle, dreckige und ihr Heilsversprechen nicht einlösende Gesellschaft ist unser Endziel… und lässt mich seufzen, denn die Definition ist breit und ziemlich willkürlich. Lasst mich euch zwei Beispiele nennen. Zum einen: Kennt ihr Nippon Connection – das Buch oder den (deutlich schwächeren) Film? Einsame Protagonisten reisen darin durch ein Amerika im Verfall, das sich Japan und dessen Firmen hilflos auslieferte, um mit und gegen Hochtechnologie ein Verbrechen zu lösen. Es passt also verdammt gut in unser Schema… und wird doch nicht dazugezählt. Zum anderen fällt mir Terminator ein: Ein künstliches Wesen aus einer dystopischen Zukunft kehrt zurück, um eine Frau durch eine Großstadt zu jagen… und nein, wieder kein klassischer Vertreter.
Was ist dann Cyberpunk? Der Film Blade Runner gilt als zentraler Vertreter (obgleich selbst meine DVD-Hülle bloß von einem Film Noir spricht), dann Animes wie Armitage III und Ghost in the Shell, Videospiele wie Deus Ex… Wikipedia nennt am Ende des Artikels eine Liste…
… und Pen&Paper-Rollenspiele wie Shadowrun, womit wir beim zweiten Teil dieser Monster-Einleitung wären (und am Anfang der zweiten Word-Seite). Das Pen&Paper-Rollenspiel entstammt nämlich ebenfalls den Achtzigern und ist eine Mischung aus klassischem Gesellschaftsspiel und Impro-Theater (die jeweiligen Anteile variieren von Gruppe zu Gruppe). Vom bürgerlichen Geist durchdrungen bilden die Spieler dabei eine (häufig aus verschiedenen Spezialisten) bestehende Heldengruppe (oder genauer: Charaktergruppe), die im Zusammenspiel mit einem Spielleiter und auf dem Boden von Regelwerken (häufig auf Würfeln basierend) Abenteuer erlebt – und sich dabei weniger wie klassische Helden verhält als vielmehr wie die Belegschaft eines mittelständischen Unternehmens, also als Fachmänner und Problemlöser. Vom Urvater Dungeons&Dragons und damit von vom Herrn der Ringe inspirierten Fantasy-Welten ausgehend, wurden die Möglichkeiten bald vermischter, man konnte ein Vampir in der modernen Welt sein, ein Jedi, ein Engel… oder eben ein anmietbarer Problemlöser in einer nah-futuristischen, dreckig-düsteren und gesellschaftlich kollabierten Großstadt. CP und P&P fanden zueinander…
… und das Ergebnis nannte sich Cyberpunk 2020, ein durchaus erfolgreiches System…
… zu dem dann ein Klon entstand – und ja, in der Mitte der zweiten Word-Seite sind wir endlich bei Shadowrun angelangt. Dieser Klon stand nun nämlich vor der Frage, wie er denn gegen das etablierte System ankommen sollte, und kam dabei auf eine nahezu irrwitzige Idee: Die Spieler übernehmen zwar immer noch die Rollen von anheuerbaren, bestenfalls halblegalen Problemlöser-Spezialisten in einer urbanen, bunten, futuristischen, hochtechnisierten und letztlich doch gescheiterten Gesellschaft, aber in dieser – das glaubt ihr nicht, wenn ihr es nicht wisst – ist die Magie zurückgekehrt. Bämm! Nun gibt es neben Computern und Implantaten auch Zauberer und Drachen und jeder dritte Mensch ist auf einmal ein Elf, Zwerg, Troll oder Ork. So ist das eben, das geht seit 2011.
Es mag verwundern, doch mit dieser Entscheidung gelang ein großer Treffer. Shadowrun wuchs zu einem der Handvoll großen Systeme heran – und das, obgleich diese Entscheidung freilich ihre Konsequenzen hatte: Die Rückkehr der Magie entfernt recht effektiv jede Spur von ernsthafter Sozialkritik (nicht, dass das nicht anders möglich gewesen wäre, doch dieser Weg wird nicht eingeschlagen) und reduziert Cyberpunk auf ein rein optisches/stilistisches Element.
Gewichtiger ist allerdings der Grundkonflikt, was die Charaktere angeht: Cyberpunk (und generell Film Noir) lebt von seinen gescheiterten und fehlerbehafteten Hauptcharakteren, wohingegen gerade das frühe Pen&Paper mit seiner mitschwingenden bürgerlichen Kultur ein professionelles Arbeitsverhalten erwartet - ein Achill, der seinen König anschreit und sich dann jeder weiteren Zusammenarbeit verweigert, passt dadurch ironischerweise besser in eine Cyberpunk-Geschichte als in ein Fantasy-P&P. Shadowrun reagiert darauf und wandelt sich mit den Editionen: Während die ersten beiden noch zugunsten ihrer literarischen Vorlage entschieden, sehe ich im Quellenbuch Kreuzfeuer, das die Idee des professionellen Söldners positiv dem des disziplinlosen Straßenpunks gegenüberstellt, als Wendepunkt an. Die dritte Edition wechselte dann auch bei ihren Archetypen auf Sentai-Spezialisten-Klassen und verzichtete auf den Untertitel des „Cyberpunk-Rollenspiels“. Die vierte Edition folgte diesen Spuren und die fünfte… auch, nehme ich an. Ich weiß nicht einmal sicher, ob sie existiert.
Damit wären wir nun hier am Ende der zweiten Seite. All das, was oben steht, hätte ich auch kürzer fassen können, hätte nicht vor einigen Jahren ein Herr Jordan Weisman, der die Shadowrun-Entwickler von Verlagsseite aus betreute, ein Kickstarter-Projekt ins Leben gerufen, um die alte Spielerschaft mit einer kleinen Adaption im Geist der guten alten Tage anzusprechen. Es heißt Shadowrun returns… und Shadowrun kehrt zurück…
… und hier wären wir.
So proste ich mit meiner leeren Teetasse all jenen zu, die den Text bis hierher ausgehalten haben. Anschließend möchte ich StreetRat auf Animexx noch ein ganz herzliches Dankeschön dafür aussprechen, dass ich ihr Bild benutzen darf. Wirklich, ihr habt keine Ahnung, wie wenige Bilder es zu diesem Mainstream-System gibt, die nicht nur Charaktere abbilden, sondern auch dem Geist treu bleiben.
Ehe ich nun aber vom thematischen zum persönlichen Vorwort wechsele, möchte ich erneut mit euch (diesmal mit frischem, heißem Tee) anstoßen. Auf eine gemeinsame gute Zeit und eine angenehme Geschichte für euch und mich.
Christian / Ghaldak
Ps: Es mag überflüssig sein, doch ich möchte trotzdem erwähnen, dass die oberen Texte natürlich keinen wissenschaftlichen Standards genügen und sie durch Vereinfachung verfälscht sein können. Legt also lieber die Wasserwaage als die Goldwaage an.
Pps: Bei den Fragen nach den Einflüssen, die Shadowrun wiederum ausübte, muss ich mich kurz halten; von den Deus Ex-Entwicklern weiß ich, dass sie es spielten, doch ich kann mir auch vorstellen, dass neben einigen Implantaten auch die menschlichen Zauberer (Geister) des ersten StarCraft darauf zurückgehen.