Seit drei Wochen verfolgten sie schon die Bestien.
So nannten sie die barbarischen Krieger, die mit Streitkolben und in Fellkleidung kämpften. Sie waren für ihre tollwütigen Angriffe und gräulichen Kampfschreie bekannt, die sie in ihren Augen wie Tiere erscheinen ließ. Ihre Angriffe waren stets unkoordiniert und stümperhaft, doch ihr Kampfeswille war gefürchtet.
Diese Truppe war der ihren ebenbürtig. Normalerweise wären sie ihnen solange aus dem Weg gegangen, bis sie sich direkt gegen sie oder das Reich wandten. Doch sie hatten Sklaven bei sich.
Eine scheußliche Sache. Immer wieder fielen Barbaren in zivilisierte Länder ein, plünderten und brachten die Leute um ihre Freiheit.
Es war ihre ureigenste Pflicht, die armen Menschen von ihren Ketten zu befreien.
Alle Krieger in Wang Mas Einheit dürsteten nach einem Kampf. Sie wollten ihnen ihre unzivilisierten Köpfe einschlagen und sie büßen lassen.
Doch ehe sie eine Schlacht eröffnen konnten, flohen die Barbaren. Und so sah sich Ma zu einer anstrengenden Verfolgung voller Entbehrungen durch die Wüste gezwungen. Immer blieben die Bestien wenige Meilen voraus, doch langsam kamen sie ihnen näher.
Sein Leben für Volk und Kaiser zu riskieren und zu opfern, gehörte in Wang Mas Familie zur Tradition. Seit einigen Generationen kämpften sie für die Tang-Dynastie. Davor waren es die Sui gewesen. Wenn man Mas Onkel glauben konnte, dann reichte die militärische Geschichte der Wang bis in die Zeit der Han zurück.
Jetzt war es Wu Zetian, der Ma die Treue schwor.
Jeder Sohn der Wang hatte, sobald er alt genug war ein Schwert zu halten, geübt es zu gebrauchen. Danach hatte er sich der Armee angeschlossen und war entweder erfolgreich oder starb im Kampf.
Und es hatte immer Sohn bei den Wang gegeben.
Mas Vater war vor einem Jahr an einem Pass im Hochgebirge gefallen. Damit war der letze lebende Soldat der Familie Wang Fu, Mas Onkel.
Er war damals sehr jung in die Armee eingetreten. Seine Ausbildiung war noch nicht ganz abgeschlossen, da befahl man ihn schon an die Front.
Die Leute meinten, er habe eine Menge durchgemacht, zu viel gesehen. Mehr als es für einen so jungen Burschen gut war. Seine Einheit war von Barbaren fast vollständig aufgerieben worden. Er war einer der wenigen Überlebenden.
Seitdem hatte er verlernt zu lachen und erzählte wirre Geschichten.
Ma mochte ihn.
Er war Ma mehr ein Vater gewesen als sonst jemand. Die wenigen Gelegenheiten, zu denen sich Mas leiblicher Vater hatte blicken lassen, konnte man an einer Hand abzählen. Vor zehn Jahren, als Fu von seinem Heimaturlaub nicht zurückgekehrt war, war er mit zehn Soldaten in ihr Dorf gekommen und hatte lange mit ihm geredet.
Er war noch am selben Tag wieder verschwunden.
Das war das letzte Mal, dass Ma ihn gesehen hatte. Doch Ma vermutete, dass er etwas mit dem Militär ausgemacht hatte, sodass Fu nicht mehr zum Dienst zurückkehren musste.
Doch diese Absprache war anscheinend mit ihm gestorben. Nur zwei Tage nach der Nachricht über den Tod, kam der Einberufungsbefehl. Fu war aschfahl geworden und hatte das Haus nicht mehr verlassen.
Sie würden ihn mit Gewalt zwingen müssen, damit er ncoh einmal in den Kampf zog. Doch das würden sie nicht tun. Ma wusste, sie würden ihn einfach der Desertation anklagen und hinrichten. Es sei denn jemand ging den gleichen Handel ein, wie es Mas Vater getan hatte.
Fu hatte keine Kinder und auch keine anderen Geschwister. Er hatte nur Ma.
Das Problem war nur, Ma war kein Mann.
Jetzt lag Ma neben zwei ihrer Kameraden bäuchlings auf dem Hügel und spähte hinab in die Ebene. Was sie sah, gefiel ihr ganz und gar nicht.
Die Bestien hatten eines ihrer Lager erreicht und waren nun dabei ihre Beute, die Sklaven, hinter den Schutzkranz aus Pfählen zu schaffen. Dort wurden sie von mehreren mit Faustkeilen ausgestatteten Komplizen übernommen.
Die Palisaden waren nicht sehr gut, aber die Barbaren waren ihnen jetzt mehr als zwei zu eins überlegen und die Faustkeilkrieger waren noch frisch.
Ma würde keine andere Wahl haben, als den Rückzug zu befehlen.
Aber sie würden ihre Chance schon noch bekommen.
Als Ma mit frisch geschnittenem Haar und in der Uniform ihres Onkels vor dem Rekrutierungsoffizier saß, sah der den roten Strich, den das Messer in ihrem jugendlichen Gesicht hinterlassen hatte und wusste sofort, dass die Rasur nicht nötig gewesen wäre. Der Junge war noch keine sechzehn Jahre alt.
Und damit hatte er recht.
Er hörte den Namen und lauschte die Geschichte des Burschen, der anscheinend noch tief im Stimmbruch steckte. Doch an dem, was dieses Milchgesicht vorschlug, war nichts zu machen. Es kam hin und wieder vor, dass ein Sohn seinen kranken Vater auslöste und an seiner Statt Dienst leistete. Allerdings waren das meist breitschultrige Recken und der Vater hatte schon ein Auge oder Ohr verloren.
Doch Wang Fu war groß, kräftig und körperlich unversehrt. Es war schade, dass sich ihm ein Schatten über die Seele gelegt hatte, aber dieser Hänfling war trotzdem kein guter Tausch.
Er schickte den Jüngling fort, er solle in drei Jahren wiederkommen.
„Machen wir eine Wette“, schlug Ma stur vor. In ihren Augen leuchtete ein eiserner Wille. „Wenn es mir gelingt, Ihnen ihr Schwert abzunehmen, gehen Sie auf meinen Handel ein.“
Der Offizier lachte. Er sah aber auch den Ausdruck auf Mas Gesicht. Und er kannte den Namen Wang sehr gut. Großmütig ging er auf die Wette ein.
Natürlich hatte Ma keine Chance. Sie hatte nie wirklich mit dem Schwert trainiert. Wenigstens hatte sie genug Kraft, um die Waffe zu schwingen.
Dreimal schickte sie der Offizier zu Boden.
Dreimal stand sie fast sofort wieder auf, obwohl ihr die Anstrengung deutlich anzusehen war.
Als sie zum vierten Mal im Staub lag, streckte der Offizier ihr kameradschaftlich die Hand entgegen. Dafür nahm er seine Klinge in die linke Hand. Er zwinkerte den zusehenden Soldaten zu und machte eine scherzhafte Bemerkung in Richtung seines Unteroffiziers.
In dem Moment sprang Ma auf und griff mit beiden Händen nach dem Schwert.
Sie rangelten. Die Klinge schnitt tief in Mas Handflächen. Das Blut floss, doch sie ließ nicht los.
Der Offizier war überrascht gewesen und wirkte jetzt ein wenig verärgert. Dann, als Ma nicht nachließ, wurde er immer verbissener. Zum ersten Mal schien er den Kampf wirklich ernst zu nehmen.
Dann trat ihm Ma in die Kronjuwelen.
Und so wurde Wang Ma Soldat im chinesischen Heer.
Sie sah viele neue Gegenden, fand alte Ruinen und neue Städte, traf fremde Zivilisationen und war beteiligt an der Erkundung El Dorados der goldenen Stadt. Sie machte erste Erfahrungen im Kampf gegen Barbaren. Doch noch hatte sie an keiner größeren Schlacht teilgenommen. Sie hoffte mit wenig Zuversicht, dass das so blieb.