Meine Damen und Herren,
ich – wir – sind schizophren.
Keine gewagte Diagnose, das ist mir nach eingehender Untersuchung klargeworden. Und ich befürchte, dass ich nicht alleine bin mit dieser Krankheit. Wie ich auf diese schwerwiegende Diagnose gestoßen bin? Betrachten wir einen ganz normalen Schultag…
6 Uhr morgens, zwei Wecker und mein Handy klingeln mich aus dem Schlaf, damit ich ganz sicher wach werde. Man soll ja nicht zu spät kommen!
Ich mache mich fertig, die Stadtbahn gibt den Rhythmus vor. Um 7 Uhr bin ich auch pünktlich am Bahnhof – die S-Bahn nicht. 10 Minuten später bekomme ich schwitzige Hände, man soll doch nicht zu spät kommen! – und endlich fährt sie ein. Eine Viertelstunde Fahrzeit trennt mich noch vom Unterricht, der Versuch den Stoff der letzten Stunden zu wiederholen scheitert an nervenden Kindern. Es bleiben dafür 10 Minuten auf dem Schulflur. Man will dem Lehrer doch kompetent gegenübersitzen!
Frühmorgendlicher Smalltalk beschränkt sich auf den Austausch von Vertretungsplanupdates und Hausarbeiten. Dann endlich! 7.35! Unterricht!
Der Lehrer kommt zu spät. Leichter Zweifel, ob man nicht eine Bahn später hätte fahren können, wird augenblicklich von der Eröffnungsfrage erstickt: „Wer hat die Hausaufgaben gemacht?“ Mit stolzgeschwellter Brust will sich der Finger in den Himmel bohren. Ein paar nicht näher benannte Schüler aus Bretten kommen zu spät, der Unterricht beginnt. Lehrerfragen werden nach bestem Wissen beantwortet und selbst wenn man keine Antwort weiß bleibt die Hand in der Luft kleben. Hauptsache kompetent. Unterdessen schreibt die andere Hand fleißig mit, selbst wenn der Lehrer nichts sagt oder an die Tafel schreibt. Zweifacher Zeilenabstand für spätere Notizen, raffinierte Abkürzungen lassen mehr Platz für schlaue Kommentare. Die Hand wird schwer, fliegender Wechsel. Zwischendrin wird dem Lehrer geantwortet und so geht es die nächsten 6 Stunden. Unterbrochen nur, um Klassenraum und Lehrkraft zu tauschen. Etwaige Klausuren stellen den Höhepunkt des Schultages dar, endlich Zeit sich zu beweisen. Man hat ja extra einen Lernplan gemacht!
Und dann – pünktlich 12.45 Uhr – geschieht etwas Merkwürdiges. Ich habe lange darüber nachgedacht und es muss Schizophrenie sein, denn Punkt 12.45 Uhr bin ich ein ganz anderer Mensch! Das Schulzeug verschwindet in der Tasche, die Hand fällt auf den Tisch. Dem geprächsbereiten Sitzpartner wird bereitwillig geantwortet. „Denkst du ans Konzert heute?“ – „Klar!“ Irgendwer brabbelt etwas von wegen „Ich beende den Unterricht!“ und lässt die Schüler trotzdem gehen. Die Bahn hat natürlich Verspätung – scheiße! Ich will hier weg! An Lernen wird nicht einmal mehr gedacht, Kindergeschrei wird mit Hard Rock in den Ohren unterdrückt. Zu den Klängen von „Viva la Revolution“ und „Du lebst nur einmal“ vergrößert sich – Gott sei Dank! – der Abstand zum Schulhaus. Auf dem Heimweg steigert sich die musikalische Aggressivität von Hard zu Heavy, zu einem wahllosen Metalsong wird im Hausflur mitgegrölt. Mutter ruft etwas aus der Küche – „Waas? Ich hab Musik an, ich hör nix!“
Das Schulzeug landet in der wartenden Ecke, der fein säuberlich verfasst Mitschrieb im Papierkorb. Der Rechner wird hoch- und der Geist runtergefahren. Übermorgen Matheklausur, der Lernplan fordert Vorbereitung. Er gesellt sich zum Mitschrieb und facebook wird geöffnet. 7 neue Nachrichten samt Kommentaren. Hausaufgaben mach ich später. Gefällt mir. Was war noch gleich mit Konzert?
Um 20 Uhr geht’s los, 3 Stunden und einige Bier später wird bei der letzten Zugabe mitgefeiert: „Kein Alkohol ist auch keine Lösung…“
Irgendwann nachts ist man wieder zu Hause. Beide Wecker werden gestellt, sonst komm ich auf keinen Fall raus. Am besten den Handywecker auch noch. In einem Anflug von Tiefsinn wird „I want out“ – „Ich will hier raus!“ als Wecklied gewählt.
Ich falle ins Bett und schlafe augenblicklich ein...
Das macht mir echt Angst! Ich muss schizophren sein! Welche ich davon bin ich? Das anständige Schul-Ich oder das andere? Ich weiß es nicht mehr und ich bin mir sicher, dass es meinen Mitschülern ganz ähnlich geht. Vor allem deren Eltern. Gut, manchmal verkehrt sich das ein wenig, da ist man zu Hause brav und macht den Abwasch, weil man später noch das elterliche Auto braucht, aber trotzdem! Bei manchen Schülern, vornehmlich aus Bretten, ist es sogar noch schlimmer! Oder ist das tägliche Zuspätkommen etwa kein Indiz dafür, dass sie verwirrt und orientierungslos keine Unterscheidung zwischen Schul-Ich und Privat-Ich mehr machen können?
Massenschizophrenie am ESG – mach das ESG etwa schizophren? Mach Schule schizophren? Aber das würde dann bedeuten, dass Lehrer ein Privatleben haben!
Andererseits… vielleicht ist die Vorstellung von einer Harley-Fahrenden Frau Richter gar nicht so abwegig, wenn man sich vor Augen hält, dass Lehrer auch einmal Schüler waren und in der Schule waren, ja, sogar länger als wir Schüler. Wenn Schule denn wirklich schizophren macht…
Das Brettner Syndrom, das gehäufte Zuspätkommen, bei vielen Lehrkräfte nspricht vielleicht genau dafür. Und vielleicht sind Lehrer und Schüler dann auch gar nicht so verschieden, wie man zumindest als Schüler oft meint. Und hätte man diese Überlegung vor 8 Jahren angestellt, wäre vielleicht manches einfach gewesen.
Macht Schule also schizophren? Vielleicht. Selbst wenn ist es inzwischen vielleicht ganz normal. Wusste nicht schon Goethes Faust: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“? Andererseits… wo lernt man denn Faust kennen? In der Schule. Ist Goethe etwa am Ende an der diagnostizierten Massenschizophrenie schuld? Nein, bei allem Respekt, nicht einmal ein Goethe ist dazu wohl in der Lage.
Also macht wohl Schule schizophren. Und was hilft dagegen, was lässt sich verschreiben? Mehr Privatleben in der Schule oder mehr Schule im Privatleben? Vermutlich ist die Diagnose selbst schon das Rezept und wahrscheinlich gilt für Schule die paracelsische Weisheit: „Dosis facit venenum.“ – „Die Dosis macht das Gift.“
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.