Das Ende eines Zeitalters
Als eines Tages, vor 70 Jahren, alle Erzmagier Varunas, auch Vynera, die ewige Königin des Waldreiches Imanesse, spurlos verschwanden, war Ariel bereits 80 Jahre alt. Iraselle, der Baum des Lebens, versagte den Bewohnern des Immerwaldes seine segensreiche Magie und verschloss sich in Trauer um seine Herrin und Gefährtin vor der Außenwelt, um sich in sich selbst zurückzuziehen.
Die Auswirkungen für die Bewohner des Waldes waren katastrophal. Ohne die Kraft des Lebensbaums verlor der Immerwald in den kommenden Jahren viel von seiner Fruchtbarkeit. Die sonst so üppigen Ernten wurden karg, Krankheiten und Tod fanden Einzug das vormalige grüne Paradies.
Alle Magier Imanesses spürte die Katastrophe in dem Moment, in dem sie geschah, denn auch sie bezogen einen Teil ihres Manas, dank der Gnade Vyneras, von dem Lebensbaum. So auch Ariel, die Hofzauberin des Fürsten von Simyala. Sie verlor keine Zeit und brach sofort nach Iraselle auf, um der Ursache auf den Grund zu gehen. So war sie dann auch schon auf halben Weg zum großen Baum als die Boten aus Iraselle Simyala grade mit der Nachricht über das Geschehene erreichten.
Bei Iraselle selbst trafen sich schließlich Magier, aber auch gewöhnliche Gesandte aus allen Ecken des Reiches, um zu beraten, was nun zu geschehen hatte. Es wurden einige Erkenntnisse gesammelt und vieles beschlossen. Um die drohende Hungersnot abzumildern, erklärte sich ein Großteil der Dryaden bereit, wieder mit ihren Heimbäumen zu verschmelzen und so weniger von den nun karger werdenden Ressourcen zu zehren. Um die Sicherheit des Immerwaldes zu gewährleisten, wurde das Grenzerkorps verstärkt und jedem Fremdländer das Betreten des Immerwaldes verweigert, denn man wusste nicht, wie gut der große Wald nun noch durch Iraselle geschützt war. Und um das Machtvakuum zu füllen, wurde Fürstin Olenna von Finnandar, schon damals eine altehrwürdige Elfin, zur Regentin von Imanesse ernannt.
Die Zwölf
Von den Magiern suchten nicht wenige in ihrem Hochmut die Kontrolle über die nun verwaiste Zitadelle von Imanesse zu erlangen, eine Absicht, die nicht einer von ihnen überlebte, denn der ehrwürdige Lebensbaum hatte seinen eigenen Willen. Andere wiederum strebten, als sie des Zustands Iraselles gewahr wurden, in die entferntesten Enden des Landes, um sich in ihrer Machtgier jeder für sich einen eigenen Manaknoten zu sichern, welche nun nicht mehr an die große Esche gebunden wahren.
Zwölf von ihnen, darunter Ariel, jedoch blieben und berieten noch viele Wochen und schlossen letztlich einen Pakt: Sie würden nicht ruhen, bis entweder Vynera zurückgekehrt war oder einer von ihnen die Kontrolle über die Weltenesche erlangte und damit zum Wohle des Immerwaldes die Herrschaft über das Reich übernahm. Jeder persönliche Ehrgeiz und jedes eigene Befinden hatte dem höheren Ziel hintenanzustehen. Kein Wissen sollte verschwiegen werden, keine Hilfe verweigert, und nichts unversucht gelassen, bis Iraselle dem Waldlandreich wieder ihren Segen gewährte.
Die Namen dieser Zwölf waren: Albion, Anaerion, Ariel, Bhardona, Finwe, Lariel, Liútasil, Nurdra, Orima, Orion, Simia und Zerza.
Im Anschluss zogen Ariel als auch ihre elf Paktbrüder und -schwestern in die Welt hinaus, um nach einer Möglichkeit zu suchen, zu Iraselle vorzudringen. Alle paar Jahre fanden sie sich dabei wieder an dem Baum des Lebens ein, um sich über ihre Fortschritte auszutauschen. Mit den Jahren schwanden auch ihre Zahlen. Finwe und Orima erschienen eines Jahres nicht mehr zu ihrem Treffen und fanden wohl auf ihren Reisen den Tod. Anaerion, Bhardona und Liútasil waren zu verschiedenen Treffen jeweils davon überzeugt, die Lösung gefunden zu haben und fanden das gleiche Ende wie all die Hochmütigen bei der großen Versammlung.
Die Suche
Die ersten zehn Jahre verbrachte Ariel damit, die Bibliotheken des Waldlandreichs nach hilfreichem Wissen zu durchstöbern, bevor sie ihre Bestrebungen schließlich auf die Lande außerhalb des Immerwaldes richtete. Sie zog nach Umuru, wo die erste Zitadelle errichtet ward und gewann dort einiges an wertvollem Wissen, doch noch immer keine Antwort. Auch in den wohl sortierten Bibliotheken Antyras kam sie dem Ziel nicht näher.
Bei dem Treffen im Jahr 39 nach Vyneras Verschwinden starb Anaerion bei dem Versuch, Iraselle an sich zu binden. Er schien herausgefunden zu haben, welchen Teil des Weltenbaumes er mit seinem Geist erreichen musste, um ihn auf sich zu prägen, doch fehlte ihm die magische Kraft, um die Prägung erfolgreich durchzuführen und sein Misslingen strafte der große Baum wie bei jedem seiner Vorgänger.
Nach Anaerions Ende wandte Ariel ihren Blick zu den elfischen Brüdern und Schwestern Kimaras, doch alles, was sie lernte war, dass Iraselle insofern wahrlich einzigartig war, dass die Weltenesche die einzige Zitadelle der Macht war, welche sich aktiv gegen die Kontrolle durch einen neuen Magier wehrte. Die übrigen Zitadellen schienen ihren Herren in schöner Regelmäßigkeit zu wechseln, nur dass keiner von ihnen sich lange halten konnte, da die Harmonischen Hallen verschlossen blieben.
Die Herrin vom See
Im Jahr 42 gab sie die Hoffnung, in der Fremde eine Lösung zu finden, schließlich auf und kehrte zurück in den Immerwald, um den Baum des Lebens fortan direkt zu studieren und zu behüten, und bezog daher ein am Sternensee, nahe Iraselle. Gleichfalls stellte sie ihre magischen Künste den Elfen und Dryaden des Immerwaldes zur Verfügung und wurde bald als gütige Herrin vom See bekannt.
Im Jahr 46 äußerte Liútasil die Überlegung, dass es weniger auf die magische Macht als auf den Charakter ankäme, um Iraselle an sich zu binden. Und natürlich war er davon überzeugt, vom richtigen Charakter zu sein. Ariel versuchte, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, doch letztlich starb er ebenso wie Anaerion.
Bhardona folgte im Jahr 61. Sie hatte in den Jahren zuvor mehrere Renegaten ausgeschaltet und mittels eines Rituals große Mengen an Mana von deren Manaknoten in ihr selbst gespeichert, auch wenn sie sich nur an den letzten dauerhaft binden konnte. Mit dieser Menge an roher magischer Kraft, meinte sie es schaffen zu können. Doch auch sie scheiterte.
Ariel hatte unterdessen mittlerweile eine Verbindung zu dem Lebensbaum aufgebaut, sodass dieser ihr nach über zwanzig Jahren der Fürsorge schließlich erlaubte, zumindest Teile von ihm zu betreten, wenngleich sein Geist ihr noch immer verschlossen blieb. Mit den Jahren gewährte Iraselle ihr mehr und mehr Zugang zu seinen Geheimnissen, bis ihr letztlich nur noch die Räume vorenthalten blieben, zu denen nur die Erzmagierin der Zitadelle Zugang hatte.
Kirea Eleison
Am Morgen des siebzigsten Jahrestages von Vyneras Verschwinden saß Ariel in einer zahlreichen Studierstuben Iraselles und recherchierte nach einer ihr unbekannten Krankheit, welche sich unter den Dryaden der Umgebung ausbreitete, als sie ein Wispern in ihrem Geist hörte, welches sie in einen der oberen Bereiche des Weltenbaumes locken wollte. Sie zögerte erst, dem Geflüster zu folgen, doch nur kurz, dann siegte die Neugier.
Das Flüstern führte sie zum Portal des Allerheiligsten, jenem Bereich, in dem nur der Erzmeister Zugang hatte. Ariel legte Linke auf das verschlossene Tor und spürte Iraselles unbändige Lebenskraft, doch der Zugang blieb verschlossen.
Du kennst den Zauber, Ariel, flüsterte die Stimme, die viele zu sein schien. Anaerions Zauber.
“Iraselle wird mich töten, wenn ich es versuche“, erwiderte Ariel ebenfalls flüsternd.
Nicht dieses Mal. Die Zeit ist gekommen.
Ariel spürte Furcht und Zweifel in ihr. Hatten Anaerion, Liútasil und Bhardona ebenfalls diese Stimme gehört und wurden von ihr ins Verderben gelockt? Stellte Iraselle ihr nach all den Jahren eine Falle?
Nein, das war nicht die Art des Lebensbaumes. Das konnte sie nicht glauben. Dennoch wollte sie es nicht wagen.
Es ist Zeit, hörte sie erneut die Stimme, die viele war. Gleichzeitig fühlte sie einen Mut und eine Zuversicht, die von außen kam, einen Einfluss auf ihren Geist, der doch keine Magie war - sondern göttlich.
“Kirea“, flüsterte Ariel voller Gewissheit.
Dann sprach sie den Zauber.